Das Postapokalypse-Rollenspiel Fallout 4 hat mit einer Realismusdebatte zu kämpfen. Wieso ist das überhaupt ein Thema für ein Computerspiel, das in einer abgedrehten, dystopischen Zukunft nach einem Atomkrieg spielt?
Dieser Beitrag ist Teil der „Reden über Weltenbau“ Reihe, die wöchentlich mit Felix von NonPlayableCharacters im Ping-Pong-Prinzip auf beiden Websites läuft, und die erste Antwort auf seinen Startbeitrag.
Fallout 4 ist das Computer-Rollenspiel des Herbstes, ein sogenannter Triple-A-Titel, quasi ein Blockbuster in Spielform. Die postapokalyptische Spielwelt genießt Kultcharakter und hat eine riesige Fangemeinde. Doch plötzlich tönen im Netz Unkenrufe: Fallout 4 sei unrealistisch und inkonsistent; auch Felix nutzt das Spiel als Steilvorlage, um unglaubwürdige Aspekte von postapokalyptischen Settings aufs Korn zu nehmen.
Was ist denn da los? Eigentlich passieren zwei Dinge gleichzeitig: Fallout 4 droht in eine Weltenbaufalle zu tappen und das Postapokalypse-Genre insgesamt darf sich die Frage stellen, wie realistisch es eigentlich daherkommt. Grund genug, diesen Beitrag in zwei Hälften zu teilen, um den Dingen auf den Grund zu gehen.
Fallout 4 in der Transformers-Falle?
Die Fallout-Serie spielt im Amerika einer Parallelwelt, in der sich die Fünfziger Jahre bis 2077 durchschlagen konnten: Es gibt immer noch Straßenkreuzer im Cadillac-Format, Röhrenfernseher mit Schwarz-Weiß-Bild, und überhaupt die ganze pastellfarbene Heile-Welt-Philosophie des Jahrzehnts. Natürlich gepimpt mit ein bisschen Futurismus, zum Beispiel schwebenden, Hecke trimmenden Robo-Butlern („Mister Handy“) und einer Art C64 fürs Handgelenk („Pip-Boy“). Die Shelter, private Luftschutzbunker, die im Amerika des Kalten Krieges schwer in Mode kamen, sind in Fallout zu „Vaults“ aufgeblasen, gigantischen Atombunkeranlagen, die vom Vault-Tec Konzern im ganzen Land gebaut worden sind. 2077 werden die Vaults auch dringend gebraucht: Ein Atomkreig verheert große Teile der Welt. So einem Bunker entsteigt der Spieler nach der Katastrophe. Im Spiel kollidiert diese heile Welt dann mit den Ruinen der USA, in denen verschiedene Gruppierungen um die Herrschaft über die Reste der Zivilisation ringen:
Spannende Ausgangslage, aber sicher nicht ein akkurates Bild einer Welt nach dem nuklearen Winter. Kann man so einem fiktiven Setting überhaupt mangelnden Realismus vorwerfen? Wo es doch ganz klar nicht realistisch sein will? Bethesda, aktueller Entwickler der Serie, möchte sich diesen Schuh jedenfalls nicht anziehen, wie Marketingchef Pete Hines auf Twitter klarstellt:
@JohnstonJarrett not interested in discussing how realistic things are in an alternate universe post-apoc game w/ talking mutants and ghouls — Pete Hines (@DCDeacon) 23. November 2015
Ganz so einfach ist es aber nicht, egal wie abgedreht das Setting von Fallout angelegt ist. Für die Glaubwürdigkeit einer fiktiven Welt gibt es nämlich ein paar feste Regeln: Sie muss Erfindungsreichtum beweisen, vollständig wirken und dabei möglichst widerspruchsfrei bleiben. Abweichungen von der Realität werden akzeptiert, wenn dafür was geboten wird. Je höher der Unterhaltungsgrad, desto weniger Realismus ist übrigens nötig – solange es eben keine innerweltlichen Widersprüche gibt. Diesen Deal nennt man die willentliche Aussetzung der Ungläubigkeit („willing suspension of disbelief“), und er hängt direkt mit der „Rule of Cool“ zusammen: „The limit of the Willing Suspension of Disbelief for a given element is directly proportional to the element’s awesomeness.“
Fallout nimmt die Zukunft, wie man sie sich in den Fünfzigern vorgestellt hat, und lässt sie genussvoll vor die Hunde gehen.
Die „Rule of Cool“ ist die komplette Daseinsberechtigung für das Transformers-Universum: Autos, die sich in Riesenkampfroboter verwandeln, sind sehr, sehr cool, dafür kann man über einiges hinwegsehen. Allerdings scheren sich die Filme so wenig um die Logik der anderen Elemente der Transformers-Welt, dass sie hauptsächlich Kopfschütteln auslösen. Fallout lassen die Fans wegen der Coolness des Settings viel durchgehen: Nicht nur dienen die retrofuturistischen Fünfziger Jahre als ästhetische Kulisse, die Spiele übernehmen auch die Technikgläubigkeit und Popkulturanleihen der Epoche. In dieser Zeit enstand beispielsweise der Unglaubliche Hulk, der seine Kräfte aus eigentlich tödlicher Gammastrahlung erhält. Fallout nimmt die Zukunft, wie man sie sich in den Fünfzigern vorgestellt hat, und lässt sie genussvoll vor die Hunde gehen. Da ist es konsequent, dass gefährliche Mutanten und Monster eine Plage in Fallout sind.
Felix gefällt das nicht ganz, für Monster wünscht er sich mehr Realismus als „Nuklerkraft“. Aber diese künstlerische Entscheidung ist Geschmackssache. Was er und der Fan auf Twitter kritisieren, hat aber noch eine andere Dimension: Ständiger Mangel müsste das prägendste Element in einer Welt sein, in der die Zivilisation zusammengebrochen ist. Wie kann da ein Ghul 200 Jahre in einem Kühlschrank eingesperrt überleben? Wieso finden sich in Ruinen nach so langer Zeit immer noch nützliche Dinge? Wieso nennt das Spiel sie dann auch noch „Schrott“? All die coolen Elemente der Fallout-Welt müssen auch in ihrem Kontext funktionieren – sonst bekommt die Welt ein Logikproblem und dann es ist mit dem Ungläubigkeitaussetzen vorbei. „Überleben“ ist eines der Grundthemen des Postapokalypse-Genres, und das muss glaubwürdig vermittelt werden. Felix hat Recht: Es ist stümperhaft, sich hier Schnitzer zu leisten.
Es haben sich so viele Details in der Welt angesammelt, dass innere Wiedersprüche fast unausweichlich sind.
Und dann ist da noch das Kontinuitätsproblem: Fallout ist eine der erfolgreichsten Computer-Rollenspielserien überhaupt – und eine der ältesten, die nach wie vor mit neuen Titeln versorgt wird. 1997 erschien der erste Teil. Bis zum aktuellen Fallout 4, das erst letzten Monat erschien, sind sechs Vorgänger und Spinoffs veröffentlicht worden. Es haben sich so viele Details in der Welt angesammelt, dass innere Wiedersprüche und deplatzierte Anekdoten fast unausweichlich sind:
@DCDeacon so is this gonna be changed in a patch? Jet is a post-war drug. It did not exist until Fallout 2. pic.twitter.com/YhRrunstMS
— Jarrett Johnston (@JohnstonJarrett) 23. November 2015
Der Medienwissenschaftler Mark J. P. Wolf stellt in seiner Abhandlung „Building Imaginary Worlds“ klar, dass solche Details passieren dürfen, denn es ist für viele Spieler schwer, die Welt überhaupt ausreichend zu überblicken, damit sie den Widerspruch finden. Im Zweifel fällt er also kaum ins Gewicht. In Zeiten von gigantischen Fan-Wikis kommt man damit allerdings nicht mehr so leicht davon, und in so großen und eingeschworenen Fan-Communitys wie der von Fallout erst recht nicht. Weder die Transformers-Falle noch das Thema Kontinuität sollten Bethesda und sein Marketingchef auf die leichte Schulter nehmen: Für eine Spielwelt kann das schlimme Folgen haben.
Können wir alle postapokalyptischen Welten in die Tonne treten?
Hoffentlich nicht, schließlich sind viele ja ziemlich cool. Wenn allerdings Science-Fiction-Filme wie Interstellar so viel Ressourcen darauf verwenden, die Effekte von schwarzen Löchern plausibel darzustellen, können wir Ähnliches auch vom Postapokalypse-Genre erwarten. Felix wirft in seinem Beitrag zum Beispiel die Frage auf, ob nicht Insekten eigentlich die vorherrschende Spezies in der Ödnis von Fallout sein müssten. Wäre die Erdoberfläche überhaupt bewohnbar?
Weder Hiroshima noch Nagasaki sind heute verödete Landstriche.
Einen globalen atomaren Krieg haben wir glücklicherweise noch nicht erlebt, daher lässt sich das schwer abschätzen. Die einzigen Anhaltspunkte liefern uns die Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki, Atombombentests und Unglücke wie das von Tschernobyl. Die unmittelbare Zerstörungskraft einer Atombome ist massiv: Die Bombe von Hiroshima zerstörte sofort 80 Prozent der 255.000-Einwohner-Stadt. Allerdings sind weder Hiroshima noch Nagasaki heute verödete Landstriche. Beide Städte wurden nach dem Krieg sofort wieder aufgebaut. Die Strahlenbelastung hat nach wie vor schlimme Langzeitschäden für die Bevölkerung, doch das Ende der Zivlisation waren die Abwürfe für die Städte nicht.
Gute Anhaltspunkte für die Bewohnbarkeit betroffener Landstriche liefern die Marshallinseln im Südpazifik. Auf dem zugehörigen Bikini-Atoll und der Insel Eniwetok testeten die USA in den 1950ern Atombomben. Heute sehen die Inseln aus wie ein Postkartenparadies, bewohnbar sind sie wohl erst wieder ab 2040. Fallout 4 spielt 200 Jahre nach dem Atomkrieg, hat also deutlich mehr Puffer. Vor allem führt die Strahlenbelastung nicht zu Superkräften oder Monstern: Im Sperrgebiet von Tschernobyl sucht man Mutanten vergebens, dafür geht es der Fauna dank der Abwesenheit des Menschen wohl besser als vor dem Unglück. Atombomben könnten also der Natur Raum für die Rückeroberung der Erde schaffen.
Bliebe noch die Frage, ob man die Zerstörungskraft eines Atomkriegs in einem Vault überleben könnte. Die American Chemical Society hat sich der Frage angenommen und sagt „ja“, einige coole und realistische Ideen für die Versorung inklusive:
Update (06.05.2016): Übersicht aller Artikel der „Reden über Weltenbau“ Reihe
Titelbild: (c) Bethesda 2015
Ich lese grade quer in der Metro 2033-Reihe. Die hat einerseits ein ähnliches Problem (Strom, Nahrung, Wasser für so viele Überlebende), andererseits bemühe sich einzelne Bände auch um eine Beleuchtung dieser Themen. Kurzum, da bin ich bisher ganz mit zufrieden.
Oh, das ist eine gute Erinnerung, die Bücher auf der Muss-noch-gelesen-werden-Liste weiter nach oben zu schieben!
Verspricht, ein interessanter Dialog zu werden. Ich folge interessiert.