Das Oxford Dictionary of Science Fiction definiert „World Building“ als „die Erfindung einer fiktionalen Welt und ihrer Geographie, Biologie, Kulturen etc., insbesondere für die Nutzung als Setting für Science-Fiction- oder Fantasy-Erzählungen, -spiele, etc.“
Kommt ein so komplexer Akt wie die Schöpfung und Gestaltung neuer Universen mit so einer knappen Definition aus? In der Reihe „Was ist Weltenbau?“ nehmen wir das Konzept gründlich auseinander, lernen den Architekten einer ambitionierten Rollenspielwelt kennen und blicken auf die Geschichte fiktiver Welten zurück.
222,6 Millionen US-Dollar allein am ersten Wochenende: So viel Eintrittsgeld ließen Besucher 2012 weltweit an den Kinokassen für den ersten Teil von Peter Jacksons „Hobbit“-Verfilmung. Neun Jahre nach dem letzten Teil der „Herr der Ringe“ Trilogie war die Begeisterung für Mittelerde ungebrochen. Was fasziniert die Besucher so sehr an den Gefährten, Bilbo und Co.? 2004 gewann „Der Herr der Ringe: Die Rückkehr des Königs“ in allen elf Oscar-Kategorien, für die der Film nominiert war, darunter bester Film, bestes Drehbuch und beste Regie. 2013 gewann „Der Hobbit: Eine unerwartete Reise“ keinen einzigen Academy Award, Nominierungen gab es nur in den drei Nischenkategorien bestes Makeup, beste Spezialeffekte und bestes Produktionsdesign. Die Kritiken fielen bestenfalls gemischt aus. Trotzdem spielte die „Hobbit“-Fortsetzung „Smaugs Einöde“ im vergangenen Jahr am ersten Wochenende schon wieder 209 Millionen US-Dollar ein. Auch hier: gemischte Kritiken, kein Oscar. Aber Warner Brothers wird sich wohl auch um den dritten Teil des „Hobbits“ in diesem Dezember keine Sorgen machen.
Woher kommt die Faszination?
Ob preiswürdig oder nicht, die Anziehungskraft von Mittelerde scheint – Verzeihung – geradezu magisch. Doch das Phänomen ist nicht auf Tolkien beschränkt: Seit Ende der Neunziger sind Fantasy- und Science-Fiction-Stoffe wieder Massenphänomene im Kino-, TV- und Buchmarkt. Einen vergleichbaren Boom gab es zuletzt Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre. Harry Potter, Star Wars und die Superhelden von Marvel und DC Comics haben gemeinsam mit Peter Jacksons Tolkien-Verfilmungen eine Dynamik angestoßen, die bis heute anhält. Davon haben „Die Chroniken von Narnia“ (seit 2005) genauso profitiert wie die Bücher und Filme der „Twilight“-Saga (2005 bis 2012) oder Serien wie „Battlestar: Galactica“ (2004 bis 2009) und „Once Upon a Time“ (seit 2011). Filmstudios und Verlage setzen wie nie zuvor auf Fortsetzungen und Reihen mit eigenen Welten, in die die Zuschauer immer wieder zurückkehren können. Das trifft selbst auf die cineastische Version der „Transformers“-Spielzeuge zu, obwohl die Streifen nach filmhandwerklichen Maßstäben nicht unbedingt brillant ausfallen.
Marvel schöpft aus den Vollen seines Comic-Multiversums: The Avengers spielte 1,5 Milliarden US-Dollar ein.
Auf bisher einzigartige Weise setzt Marvel dieses Konzept um: Seit dem ersten „Iron Man“ Film 2008 schöpft das Studio aus den Vollen des Marvel-Comic-Multiversums und hat nach und nach eine einheitliche Marvel-Kinowelt aus verschiedenen Figuren und Filmen geschaffen. Mit „The Avengers“ wurden die Stränge 2012 erstmals zusammengeführt, der Film spielte sagenhafte 1,5 Milliarden US-Dollar ein. Der Nächste wird bald folgen: Nach mehreren Fortsetzungsfilmen mit einzelnen Charakteren, der TV-Serie „S.H.I.E.L.D.“ und der im selben Universum angesiedelten Heldentruppe von „Guardians of the Galaxy“ stehen die Avengers mit „Age of Ultron“ schon in den Startlöchern für 2015. Bis 2020 ist alles bereits durchgeplant.
Wie kam dieses gewaltige Kinoprojekt zustande? Dem amerikanischen Medienwissenschaftler Henry Jenkins erzählte ein erfahrener Drehbuchautor einmal über kreatives Schaffen in Hollywood: „Als ich angefangen habe, hat man eine Geschichte angeboten, denn ohne gute Geschichte gibt es keinen Film. Dann, als Fortsetzungen in Mode kamen, hat man Charaktere verkauft, denn ein guter Charakter kann Grundlage für viele Geschichten sein. Und jetzt verkauft man eine Welt, denn eine Welt kann viele Charaktere und viele Geschichten in vielen verschiedenen Medien am Leben halten.“ Die Marvel Studios haben dieses Konzept ganz offensichtlich perfektioniert.
„Der Weltenbauprozess löst einen geradezu enzyklopädischen Drang bei Lesern und Autoren aus.“
Henry Jenkins, der an der University of Southern California Medienwissenschaften lehrt, ist einer der Pioniere bei der Erforschung von Welten, die für Massenmedien konstruiert werden. Ihre Faszination erklärt er folgendermaßen: „Der Weltenbauprozess löst einen geradezu enzyklopädischen Drang bei Lesern und Autoren aus. Wir fühlen uns von Welten, die größer als das zu sein scheinen, was wir gerade von ihnen sehen, herausgefordert. Wir wollen sie meistern und alles über sie wissen.“ Das verschaffe uns eine ganz andere Form von Befriedigung als klassische Narrative, die sich allein auf einen Plot konzentrieren. Von diesen wüssten wir, „dass wir beim Verlassen des Kinos alles Nötige erfahren haben, um den Sinn einer Geschichte zu verstehen.“ Bei überzeugend dargestellten Welten bleibe ein Wissensdrang übrig, den die abgeschlossene Geschichte allein nicht befriedigen könne: Wir haben über sie eben noch nicht alles erfahren, was wir hätten erfahren können.
Ist eine Welt noch die Bühne oder inzwischen der Hauptdarsteller?
„Enzyklopädisch“ kann dieser Wunsch nach Mehr tatsächlich ausfallen: Unzählige Fan-Wikis sammeln und katalogisieren jeden Informationsschnipsel, den es zu bekannten wie unbekannteren Welten gibt. Allein das deutschsprachige Star-Trek-Fan-Wiki Memory Alpha hat über 23.000 Einträge. Für neue Serien, Bücher oder Filmreihen entstehen schnell dutzende neue Wikis, bei Computerspielen oft lange vor der eigentlichen Veröffentlichung. Wikia.com, die größte Plattform für das Erstellen und Pflegen solcher Fan-Wikis, hat daraus ein Geschäftsmodell gemacht und zählt über 400.000 einzelne Communitys. Ist möglichst detailreicher Weltenbau also das Erfolgsrezept schlechthin für Fantasy- oder Science-Fiction-Autoren? Hat der alte Drehbuch-Haudegen aus Hollywood Recht?
Manche sehen das anders: „Eine Science-Fiction-Geschichte muss jederzeit den Triumph des schriftstellerischen Handwerks über Weltenbau darstellen. Weltenbau langweilt. Weltenbau literarisiert den Drang, irgendetwas zu erfinden. Weltenbau erteilt eine völlig unnötige Erlaubnis, irgendetwas zu schreiben (und auch, irgendetwas zu lesen). Weltenbau betäubt die Fähigkeit des Lesers, seinen Teil der Abmachung zu erfüllen, denn er geht davon aus, dass alles geliefert werden muss, wenn im Kopf des Lesers überhaupt etwas passieren soll.“ Diese schweren Geschütze fuhr der britische Science-Fiction-Schriftsteller Michael John Harrison („Die Centauri-Maschine“, „Licht“, „Nova“) 2007 in seinem Blog zum Thema auf. Gemeint ist wohl, dass eine Welt nicht wertvoller als der Plot und die Charaktere ist. Harrison attestiert hiermit jedem, der sich in Beschreibungen der Umwelt verliert, schlechten Stil.
Tatsächlich ist der häufigste Rat, der Hobby-Autoren gegeben wird: Beschränke dich auf das Wesentliche. Tolkien wiederum würde darüber wohl nur müde lächeln – Mittelerde ist als linguistisches und kulturwissenschaftliches Projekt entstanden und die Geschichten, die die Welt populär gemacht haben, waren erst ein spätes Ergebnis dieser Arbeit. Nach heutigen Maßstäben ist „Der Herr der Ringe“ eher ein schwerfälliger Brocken, der den Text nur zu gern mit ausufernden Details aufbläht.
Wie viel Weltenbau ist genug, um die gewünschte Sogwirkung für den Rezipienten herzustellen? Gibt es dafür feste Regeln? Haben die Marvel Studios dafür ein Geheimrezept in der Schublade? Die Medienforschung hat noch nicht viele Antworten darauf. Erst seit den Neunzigern wird zur Wirkung fiktiver Welten überhaupt in diesem Forschungsfeld publiziert, zunächst im Kontext von Videospielen, heute im Hinblick auf die Wirkung von Welten in verschiedenen Medien unter dem Stichwort „Transmedia“. Dort unterscheidet man inzwischen klar den Weltenbau vom Plot eines Buchs, Films oder Spiels. Der amerikanische Literaturwissenschaftler Michael Riley schreibt etwa über die Werke von Lyman Frank Baum, dem Schöpfer von „Oz“: „Geschichten, die Kritiker als seine schwächsten in Bezug auf Plot, Charaktere und Thema ansehen, sind unter seinen stärksten bei der Entwicklung seiner Anderswelt.“
Eine Welt macht noch keine Geschichte und eine Geschichte noch keine Welt
Für die gewünschte Sogwirkung braucht eine Welt neue Ideen und viele ausgearbeitete Bestandteile, die widerspruchsfrei zueinander stehen.
Das klingt, als müsse man sich zwischen zwei Optionen entscheiden. Mark J. P. Wolf, Professor für Kommunikationswissenschaften an der Universität von Wisconsin, fasst die Problematik so zusammen: „Während eine Geschichte zwar in einer Welt stattfindet, muss sie uns nicht viel von der Welt zeigen. Eine Welt kann mehrere Geschichten beinhalten, ohne für ihre Existenz auf eine einzelne davon angewiesen zu sein. In der Regel gehen aber Plot und Welt Hand in Hand, sie befruchten sich gegenseitig und wenn der Autor seine Geschichte gut konstruiert hat, wird es so scheinen, dass die Welt auch jenseits der Geschehnisse, Orte und Charaktere des Plots Bestand hat.“ Ob das gelingt, ist laut Wolf von messbaren Kriterien abhängig: Einfallsreichtum, Vollständigkeit und Konstanz. „Ohne ausreichende Bemühungen in diese drei Richtungen wird das Resultat nicht als Illusion einer eigenständigen Welt überzeugen können.“ Für die gewünschte Sogwirkung braucht eine Welt also neue Ideen und möglichst viele ausgearbeitete Bestandteile, die widerspruchsfrei zueinander stehen.
Trotzdem poltert Science-Fiction-Autor Harrison gegen zu viel Weltenbau (Vielleicht eher Weltenschau?) innerhalb eines Werks. Angehende Schriftsteller sollen sich doch bitte beschränken. Allerdings: Auch wenn nicht alles in das Werk einfließt, muss die Welt am Ende doch konstruiert werden. Gibt es ein zu viel an Weltenbau? Laut Rollenspieldesignerin Deborah Christian eher nicht, denn nur so ließen sich Klischees zuverlässig vermeiden. Sie argumentiert in einem Artikel zu dieser Frage, dass wir ohne ausreichend durchdachte Weltenbau-Basis dazu neigten, „uns auf bekannte Themen, Formeln und historische oder fiktive Bausteine zu verlassen, die wir in unserem Unterbewusstsein mit uns herumtragen. Vielleicht ändern wir Details, aber sobald wir diese ‚Erfindungen‘ in unsere Welt einbauen, fühlen sie sich schnell banal und abgekupfert an.“ Wie die Welt letztlich vermittelt werde, stehe natürlich auf einem anderen Blatt.
Diese Schere zwischen der Qualität des Weltenbaus und einer guten Rahmenhandlung für Medien wie Filme, Bücher oder Spiele kann bisweilen groß ausfallen. Der Filmkritiker Louis Kennedy bemerkte einmal treffend über die stark abfallende Qualität des Plots in der „Matrix“-Trilogie: „Sie [die Wachowskis als Autoren und Regisseure] interessieren sich nicht für Geschichten oder den Plot. Sie wollen eine Welt mit Tiefe und vielen Facetten erschaffen, eine komplexe Umgebung, in die die Zuschauer eintauchen und die sie auf verschiedenen Wegen erleben können. Sie sind keine Geschichtenerzähler. Sie sind Weltenbauer.“
Wie kanadische Computerspielentwickler mit systematischem Weltenbau den Grundstein für eine wirtschaftliche Erfolgsgeschichte legten, durchleuchtet der zweite Teil: Der Erfolg von „Dragon Age“.
Mehr lesen:
- Henry Jenkins: Transmedia Storytelling 101
- WarrenEllis.com: M. John Harrison On Worldbuilding
- Deborah Christian: Dangerous Advice: “Worldbuild only enough to support the story.”
- Mark J. P. Wolf: Building imaginary worlds. The theory and history of subcreation; Routledge Chapman & Hall. Taschenbuch, ca. 30 Euro.
Titelbild: „Visions of Home“, (CC BY-ND 2.0) Chris Halderman/Flickr