Das Oxford Dictionary of Science Fiction definiert „World Building“ als „die Erfindung einer fiktionalen Welt und ihrer Geographie, Biologie, Kulturen etc., insbesondere für die Nutzung als Setting für Science-Fiction- oder Fantasy-Erzählungen, -spiele, etc.“
Kommt ein so komplexer Akt wie die Schöpfung und Gestaltung neuer Universen mit so einer knappen Definition aus? In der Reihe „Was ist Weltenbau?“ nehmen wir das Konzept gründlich auseinander. Im zweiten Teil lernen wir den Architekten und den Schöpfungsprozess der Welt von „Dragon Age“ kennen und erfahren, warum guter Weltenbau hier nicht nur ein Setting liefert, sondern die Grundlage für den wirtschaftlichen Erfolg der Reihe ist.
„Früher oder später gestaltet jeder Meister, der etwas auf sich hält, sein eigenes Fantasy-Setting, oder? Du musst dir keine Gedanken mehr über den Einfluss von Altlasten anderer auf deine Kampagne machen oder fürchten, dass deine Spieler mehr über das Setting wissen als du. Du darfst bei null anfangen und die Elemente einbringen, die deine Vorstellung einer Fantasy-Welt am besten widerspiegeln.“ So blickt David Gaider in „Dragon Age: The World of Thedas“ auf den Beginn eines Mammutprojekts zurück. Gaider ist als leitender Autor beim kanadischen Studio Bioware verantwortlich für das Setting der „Dragon Age“ Computer-Rollenspiele. Thedas ist seine Schöpfung, die Welt, in der die „Dragon Age“ Spiele angesiedelt sind.
Rollenspiele und ihre Mechanismen gibt es schon viel länger als ihre Umsetzungen für den Computer. Gaider hat bereits Rollenspiele gespielt, als Spieler sich für den Kampf gegen Monster oder die Erkundung fremder Welten noch mit Stift, Papier und Würfel bewaffneten. Die Meister und Kampagnen, von denen er schreibt, sind Begriffe aus diesen Pen-&-Paper-Rollenspielen. Die Spieler sitzen gemeinsam am Tisch und müssen Werte wie Erfahrungspunkte und Level per Hand notieren. Der „Meister“ ist der Spielleiter und verantwortlich für den Verlauf der Erzählung: Anhand seiner Beschreibungen erleben die Spieler die Geschichte und entscheiden, wie sie in ihren Rollen darauf reagieren. Er muss mehr über den Plot, die Umgebung und die ganze Welt wissen als die Spieler, damit er ihnen einen angemessenen Handlungsrahmen bieten kann.
Wer Freiheit will, muss aus der vorgegebenen Welt ausbrechen
Viele heute erfolgreiche Computerspieldesigner haben wie Gaider mit diesen Pen-&-Paper-Rollenspielen angefangen. Als Meister bezogen sie das Wissen über die Welt ihrer Spielergruppe aus umfangreichen Hintergrundbüchern, die parallel zu den Regeln des jeweiligen Rollenspiels entstanden und laufend ergänzt wurden. Auch wenn sie ihren Zenit inzwischen überschritten haben: Pen-&-Paper-Rollenspiele gibt es nach wie vor. Wer sich darauf einlässt, kann das von Gaider beschriebene Phänomen schnell selbst kennen lernen: Vorgegebenes Hintergrundmaterial wird für die eigene Fantasie irgendwann unbefriedigend. Viele Meister möchten aus den engen Korsetts der Vorgaben ausbrechen und mehr Kontrolle über das Spiel gewinnen – nicht nur über die Spieler und die Regeln, sondern auch darüber, wie sich die Welt anfühlt, was sie ausmacht, was dort passiert und passiert ist. Also beginnen sie irgendwann, die Informationen aus offiziellen Quellen nach ihren Vorstellungen anzupassen oder gleich eine ganze Welt neu zu entwerfen.
Ein etabliertes Universum lässt sich nicht einfach so auf den Kopf stellen, wenn seine Geschichte über Jahrzehnte erzählt wurde.
In gewisser Weise führte bei Gaiders Arbeitgeber Bioware derselbe Wunsch zur Entstehung der Welt Thedas. Die Kanadier machten sich früh als Entwickler exzellenter Computer-Rollenspiele einen Namen, die oft in etablierten Settings angesiedelt waren: Für den Klassiker „Baldur’s Gate“ lizenzierte das Studio die Vergessenen Reiche des „Dungeons-&-Dragons“-Rollenspielsystems, für „Knights of the Old Republic“ das „Star-Wars“-Universum. Diese Lizenzen boten reichlich Hintergrundmaterial und konnten auf große Fangemeinden setzen. Doch gerade den größten Stärken der Bioware-Entwickler setzten diese Welten die engsten Grenzen: Die Handlung und die Charaktere, die Spieler steuern konnten, mussten sich immer innerhalb der Möglichkeiten der gekauften Welt bewegen. Und diese waren bereits von vielen anderen Produkten abgesteckt: durch Romane, Filme oder ganze Enzyklopädien. Und im Gegensatz zum Meister einer privaten Pen-&-Paper-Rollenspielrunde kann ein Entwicklerstudio wie Bioware nicht einfach ein etabliertes Universum auf den Kopf stellen. Wer allen anderen Quellen widerspricht, verliert die wertvolle Fangemeinde einer Lizenz als Käufer. Für volle Kontrolle über alle Aspekte seiner Spiele brauchte Bioware also eigene Welten.
Autor Gaider wurde damit beauftragt, mit einem Team das Setting für die neu zu schaffende Bioware Fantasy-Spielemarke „Dragon Age“ zu entwerfen (Thedas = The Dragon Age Setting). Ein Science-Fiction Setting hatte das Studio bereits mit „Mass Effect“ ins Leben gerufen. Gaider durfte fast wie ein unzufriedener Pen-&-Paper-Meister bei null anfangen: „Ich erinnere mich an die Vorgaben: eine traditionelle Fantasy-Welt, komplett mit Zauberern, Zwergen, Elfen und allem anderen, was man von Fantasy erwartet.“ Aber welche Schwerpunkte er setzen und was den Charakter der Welt ausmachen sollte, sagte man ihm nicht. Das Projekt bedeutete Weltenbau in einer Dimension, die wenigen vergönnt ist: „Hier ging es nicht um eine Kampagne für eine private Spielrunde, sondern um etwas, das Millionen von Menschen erleben würden. Und das war plötzlich Teil meines Jobs? Es erschien mir ein bisschen surreal.“
Warum musste es gleich so ein Mammutprojekt sein? Hätte Gaider nicht einfach eine Fantasygeschichte entwerfen können, die dann im Computerspiel erzählt wird? Die Antwort ist weniger romantisch, als es Gaiders Geschichte vom unzufriedenen Meister vermuten lässt. Denn die Entscheidung war eine wirtschaftliche Notwendigkeit, wenn Bioware trotz fehlender bekannter Lizenz mit eigenen Rollenspielen Geld verdienen wollte.
Weltenbau als Garant für Verkaufsschlager
Der Markt für Computerspiele ist riesig, die Analystenfirma Gartner schätzt den voraussichtlichen Umsatz 2014 auf weltweit 100 Milliarden US-Dollar. Die Filmindustrie kommt auf etwa 88 Milliarden. Doch auch die finanziellen Risiken sind enorm: Die Entwicklungskosten für Top-Rollenspiele wie „Dragon Age“ oder „The Witcher“ liegen zwischen 7 und 15 Millionen Euro. Rollenspiele sind traditionell weniger von teurer Grafiktechnik abhängig, doch die vielen Dialoge, Aufgaben, Gegner, Orte und Gegenstände blasen die Komplexität auf. Ist das Spiel am Ende ein Flop, kann es das wirtschaftliche Aus für ein Entwicklerstudio bedeuten. Andere Genres sind erheblich beliebter und haben bessere Karten, ihre Kosten schnell wieder einzuspielen.
Bereits 2003 sind diesem Trend die Black Isle Studios zum Opfer gefallen, die für Rollenspielklassiker wie „Fallout“, „Planescape: Torment“ und „Icewind Dale“ verantwortlich waren. 2008, ein Jahr vor dem Erscheinen von „Dragon Age: Origins“, erschien „Fallout 3“, eine Weiterführung des Black-Isle-Klassikers, programmiert von einem anderen Studio. Das Spiel konnte trotz der schweren Zeiten für Rollenspiele auf eine beliebte Marke setzen und mit fast fünf Millionen verkauften Einheiten an die früheren Erfolge anknüpfen. Doch der im selben Jahr veröffentlichte Ego-Shooter „Call of Duty: World at War“ verkaufte sich mühelos mehr als doppelt so oft.
Die Fans mussten von vornherein überzeugt werden, oder die neue Marke würde scheitern.
Wenn Bioware ohne die Zugkraft einer schon etablierten Lizenz die weniger zahlreichen aber umso anspruchsvolleren Rollenspielfans für sich gewinnen wollte, brauchten die „Dragon Age“ Spiele eine spannende Handlung und eine glaubwürdige Welt. Die Fans mussten von vornherein überzeugt werden, oder die neue Marke würde scheitern. Allerdings kostet diese kreative Arbeit bereits viel Zeit und Geld, bevor mit der Programmierung des Spiels, also des eigentlichen Produkts, überhaupt begonnen werden kann. Um das Investitionsrisiko zu senken, entschied sich Bioware dafür, Weltenbau zum wichtigsten Baustein des Projekts zu machen. Die Kalkulation: Wenn zuerst die Welt erschaffen wird, können später immer wieder Handlungsstränge für Spiele, Romane und andere Medien dort angesiedelt werden, ohne dass noch einmal kreative Leistungen im selben Maßstab erbracht werden müssen. Charaktere und Plots würden sich ganz natürlich in eine bereits lebendige Welt einfügen, die eine Geographie, eine eigene Metaphysik, Bewohner und eine Geschichte hat und deren visuelle Umsetzung bereits konzipiert ist. Damit würde der Produktionsaufwand für jedes weitere „Dragon Age“ Spiel erheblich sinken.
Drei Jahre Weltenbau
Bioware machte Ernst und investierte allein in diese gründliche Vorbereitung drei Jahre, in denen nicht eine Zeile Spielcode geschrieben wurde. Doch das war laut Mike Laidlaw, dem Chef-Designer des ersten Spiels „Dragon Age: Origins“, für den Masterplan des Studios unausweichlich: „Du brauchst etwas, worauf du aufbauen kannst, oder die Konstanz geht den Bach herunter.“ Heute ist klar: Die Strategie ist voll aufgegangen. Noch bevor „Dragon Age: Origins“ erschien, veröffentlichte der leitende Autor Gaider einen ersten in Thedas angesiedelten Roman. Inzwischen sind vier weitere Romane von verschiedenen Autoren erschienen. „Origins“ verkaufte sich aus dem Stand mehr als vier Millionen Mal, die Fortsetzung kam 2011 auf den Markt und der dritte Teil ist seit November erhältlich. Es gibt zudem ein „Dragon Age“ Pen-&-Paper-Rollenspiel, mehrere Comics und Graphic Novels, eine Webserie und einen Anime-Film, der es in Japan sogar ins Kino schaffte.
Thedas hält sich an viele Konventionen des Fantasygenres, speziell von etablierten Rollenspielsettings: Natürlich gibt es Magier, Zwerge, Elfen, Drachen und Dämonen, dazu die neu erfundene Rasse der Qunari und die Bedrohung durch die böse Dunkle Brut als Ersatz für Ork-Heere. Doch Gaiders Team war auch um mehr Glaubwürdigkeit bemüht: Klare Grenzen zwischen Gut und Böse wurden weitgehend vermieden. Die Nationen und Gesellschaftssysteme wirken komplex, wenngleich sie sich – dem westlichen Genre-Mainstream folgend – stark am mittelalterlichen Europa orientieren. Viele klassische Fantasy-Elemente haben in Thedas allerdings neue, erfrischende Aspekte:
- Elfen: Ja, es gab sie, die große, hoch entwickelte elfische Zivilisation. Allerdings ist sie längst untergegangen. Elfen leben als Diener und Sklaven in den Ghettos größerer Städte oder ziehen als Dalish-Elfen auf der Suche nach ihrer einstigen Vergangenheit in Wagenverbänden durch die Wildnis.
- Zwerge: Natürlich leben sie in unterirdischen Königreichen. Doch ihre Gesellschaft kommt mit einem komplexen Kastensystem und sozialen Spannungen daher.
- Religion: Thedas nimmt auf angenehme Weise Abstand vom römisch-griechisch geprägten Standardpantheon für alle. Die dominierende Religion in den menschlichen Reichen ist die Kirche des Erbauers, ein dem Christentum nachempfundener monotheistischer Glaube, in dem neben dem Erbauer auch Andraste, seine Prophetin, verehrt wird. Es gibt eine Reihe älterer polytheistischer Religionen, Elfen verehren völlig andere Götter, die Zwerge verehren ihre Ahnen. Ob die Götter wirklich existieren, wird weitgehend offen gelassen, sodass die verschiedenen Glaubensrichtungen einen Hauch von Mystik bekommen.
- Magie: Magier beziehen ihre Kraft auf Thedas aus dem Nichts, einer parallelen Traumwelt voller Schrecken und Dämonen. Ihre Macht ist daher mit vielen Risiken verbunden (unter anderem Besessenheit durch ebendiese Dämonen). Damit wird – auch das sehr angenehm – in den verschiedenen Gesellschaften von Thedas unterschiedlich umgegangen. Der Kirche stehen die Templer nahe, die die Ausbildung von Magiern in streng reglementierten Zirkeln überwachen. Das Tevinter Imperium ist hingegen eine Magokratie. Bei den Qunari werden Magier als tickende Zeitbomben behandelt, die konditioniert und kontrolliert werden müssen.
Was Gaider mit seinem Team erschaffen hat, ist zu einem eigenständigen Universum geworden, in das viele Wege führen. Die Welt ist viel größer und detaillierter beschrieben als alle Handlungsstränge, die in ihr erzählt werden, zusammen. Dem Weltenbauprozess kommt damit die Schlüsselrolle in der Erfolgsgeschichte von „Dragon Age“ zu. Für Gaider aber ist er vor allem ein wahr gewordener Traum: „Thedas‘ Entwicklung von den Anfängen bis zu dem Moment zu verfolgen, an dem die Welt Wirklichkeit wurde, raus an die Fans ging und von so vielen begeistert angenommen wurde, war das Highlight meiner Karriere.“
Der dritte und letzte Teil der Reihe „Was ist Weltenbau?“ gibt einen Überblick über die lange Geschichte fiktiver Welten von Odysseus bis Oz.
Mehr lesen:
- David Gaider: Dragon Age: The World of Thedas Vol. 1; Dark Horse. Gebunden, ca. 25 Euro.
- David Gaider auf Twitter: @davidgaider
- Viele atmosphärische Konzeptzeichnungen zu „Dragon Age: Inquisition“ finden sich im Blog von Matt Rhodes
Titelbild: (c) Matt Rhodes/Electronic Arts
Guter Artikel. Wobei ich die Konventionen an den Mainstream bei Dragon Age manchmal schade finde. Bioware macht daraus jedoch viel, wie einen alten Baum mit neuem Lametta aufzuwerten.
Sehr weihnachtlicher Vergleich 😉 Bei vielen Spielen und Filmen mit großen Budgets kann man davon ausgehen, dass die Studios ein möglichst großes Publikum erreichen wollen. Ich glaube, dass Bioware vor allem deswegen ein recht „klassisches“ Setting anstrebte. David Gaider war auch schon an „Baldur’s Gate 2“ und „Neverwinter Nights“ beteiligt, die Welt von „Dungeons & Dragons“ war für ihn sicher prägend. In einem Interview hat er sogar mal gesagt, dass Bioware mit „Dragon Age: Origins“ auch zu den „Baldur’s Gate“ Wurzeln zurückkehren wollte.