Wer nicht langweilen will, muss sich für seine Fantasy-Welt schon mehr Mühe geben als Tolkien zu kopieren. Zum Glück ist das gar nicht so schwer, wenn man sich erst einmal von den klassischen Stereotypen im Weltenbau löst.
Dieser Beitrag ist Teil der „Reden über Weltenbau“ Reihe, die wöchentlich mit Felix von NonPlayableCharacters im Ping-Pong-Prinzip auf beiden Websites läuft. Eine Liste aller Artikel findet sich am Ende dieses Beitrags.
Elfen, Zwerge, Orks und der epische Konflikt von Gut gegen Böse sind immer noch der Goldstandard in westlichen High-Fantasy-Werken. Und wenn diese Zutaten fehlen, dann tun wir uns trotzdem schwer, uns von Formel „Europäisch geprägtes Mittelater + Magie + X“ zu lösen. In seinem letzten Beitrag hat Felix bereits ein paar Anregungen gegeben. Ich möchte konkreter werden. Dabei konzentriere ich mich auf Fantasy-Welten, die sich vor dem Wissensstand unserer Neuzeit befinden, damit es keine Überschneidungen mit alternativen Realitäten (zum Beispiel den Napoleonischen Kriegen mit Magie oder Drachen) oder Steampunk gibt.
1. Neue Vorbilder finden
Die besten Vorlagen für glaubwürdige Kulturen bietet unsere eigene Geschichte. Aus diesem reichen Fundus schaffen es aber fast ausschließlich Elemente der südeuropäischen Antike oder des nordeuropäischen Mittelalters in Fantasy-Gesellschaften: Untergehende Imperien im Stil der Römer und ritterliche Königreiche sind das Grundrezept, für einen Schuss Exotik darf es auch mal etwas arabische oder fernöstliche Kultur sein.
Wer seine Geschichtskenntnisse aufbessert und Zeit in Recherche investiert, kann in ganz andere Richtungen denken. Wie wäre es zum Beispiel mit einem Reich nach Vorbild der Sassaniden, dem letzten spätantiken Perserreich? Ein Großkönig regierte fruchtbare subtropische Länder an der Schnittstelle der wichtigsten Handelswege, hervorragend ausgebildete Panzerreiter mit Lanzen und Bögen verteidigten die Grenzen über Jahrhundert hinweg erfolgreich gegen alle Bedrohungen. Oder wie wäre es mit einer Megastadt im Dschungel, deren Tempel allein fast 13.000 Priester, Diener und Arbeiter benötigten? Angkor ist so ein Beispiel. Und wenn es schon europäisch sein muss, gibt es trotzdem ungenutztes Potenzial abseits der ausgetretenen Pfade. Zum Beispiel Wikinger, die erst ein großes inländisches Reich gründeten und dann beritten mit Säbel und Bogen in den Krieg zogen – die Rus.
2. Nieder mit dem Status Quo!
Geschichte ist immer in Bewegung, viele Fantasy-Welten scheinen dagegen erstarrt: Gerne wird mit Zeiträumen von tausenden Jahren hantiert, in denen sich nichts verändert – keine technologischen Durchbrüche, keine politischen Verwerfungen, keine neuen Ideen. Eine Welt, in der Bewegung ist, ist viel spannender! So kommen als Konflikte nicht nur der alte Hut „Gut gegen Böse“ in Frage, sondern Völkerwanderungen, wirtschaftliche Interessen oder neue Glaubenssysteme.
Die Hanse, die mächtigste Handelsorganisation des Mittelalters, verlor zum Beispiel plötzlich ihre Bedeutung, weil Amerika entdeckt worden war und Profit auf ganz anderen Routen gemacht wurde. Naturkatastrophen können ganzen Zivilisationen die Existenzgrundlage entziehen und zehntausende Menschen auf Wanderschaft schicken. Seuchen entvölkern Landstriche. Vielleicht verbreitet sich eine neue Religion oder Philosophie rasend schnell und stellt die Gesellschaftsstruktur auf den Kopf. Vielleicht erhebt eine neue Technologie eine kleine Regionalmacht plötzlich zum Imperium. Steter Wandel macht eine Welt glaubwürdig und gibt ihr Dynamik.
3. Neue Perspektiven zulassen
Wer Dynamik zulässt, kann klassische Fantasy-Motive viel leichter auf den Kopf stellen. Wie Mittelerde wohl reagieren würde, wenn plötzlich Schiffe von einem anderen Kontinent auftauchten, der technologisch viel weiter ist? Statt gegen Das Böse™ könnten sich Fantasy-Völker doch zur Abwechslung mal einer drohenden Kolonisierung erwehren.
Aber vielleicht sind die Neuankömmlinge gar keine Eroberer, sondern nur Händler, die technologischen Fortschritt ermöglichen. Und statt uralte Kulturen wie Tolkiens Elben langsam und unausweichlich untergehen zu lassen, könnten ihr Wissen und ihre Philosophie eine Renaissance erleben – so haben die Griechen in unserer Antike zwar irgendwann an politischem Einfluss eingebüßt, aber andere Kulturen noch für Jahrhunderte geprägt.
4. Gedankenspiele mit Technologien
Europäisches Mittelalter ist als Basis für ein Setting plötzlich undenkbar, wenn man Pferde aus der Welt entfernt. Trotzdem gelang „zu Fuß“ in einem anderen Teil der Welt die Schaffung eines föderalistisch organisierten Imperiums, das eine Nord-Süd-Ausdehnung von tausenden Kilometern hatte: das Inkareich. Der Regierungsapparat wurde über ein ausgeklügeltes Botensystem zusammengehalten.
Das Pferd ist im weitesten Sinne eine Technologie. Auch mit anderen Aspekten einer Welt lässt sich experimentieren: Wie würde sich die frühere oder spätere Erfindung des Kompass auf Handel und Ausdehnung von Reichen auswirken? China wurde in den Naturwissenschaften zeitweise von Europa abgehängt, weil es dort kein Glas gab – Porzellan hat dort für Jahrtausende alle Funktionen von Glas erfüllt, war aber für viele Experimente nicht geeignet. Übrigens: Auch Magie oder den Zugriff auf Zauberer darf man als so eine wichtige Technologie betrachten. Wer sich bei diesem Gedankenspiel geschickt anstellt, kommt so schnell auf frische Ideen.
5. Remix!
Das Beste am Weltenbau ist, dass man sich von überall Bausteine holen und sie neu zusammensetzen kann. Aspekte einer Kultur wie Kunst, Religion oder Regierungsformen lassen sich so von einem Vorbild nehmen und auf eine anderes übertragen, bis man etwas Einzigartiges geschaffen hat. Das hat Tolkien übrigens auch fleißig getan: Die Reiter von Rohan sind im Prinzip Ostgoten mit altenglischem Sprachstamm, Gondor verhält sich zu ihnen wirtschaftlich und politisch wie Byzanz. Dürfte aber kaum jemand gemerkt haben.
Update (06.05.2016): Übersicht aller Artikel der „Reden über Weltenbau“ Reihe
Titelbild: „The Capital at Dougga (VII)“ (CC BY 2.0) Institute for the Study of the Ancient World/Flickr
Wieder ist euch ein schöner Artikel gelungen 😀
Ich selbst bevorzuge den Remix von Kulturen und setze oben drauf dann noch eine Stilepoche (z.B. Barock und Wikinger xD).^^
Danke sehr! Jetzt wäre ich wirklicht interessiert, wie ich mir barocke Wikinger vorzustellen habe 😉
Ich bin jetzt auch mal ganz offen: Zum aktuellen Zeitpunkt (Februar 2016) gibt es gar kein „wir/euch“ – ich schreibe alles alleine. Ich habe leider (noch) keine Lakaien, die ich für fehlerhafte Recherchen verantwortliche machen kann…
Wenn du Lust und Kapazitäten hast, dann wäre es mir eine Ehre ein Lakai für fehlerhafte Recherchen zu sein xD
PS: Vielleicht im Frühling? 🙂
Darauf könnte ich zurückkommen 🙂
Hallo Michael,
Die Richtung, in die der Artikel geht, gefällt mir sehr gut.
Zu Punkt 5, dem Remix, möchte ich ein paar Gedanken äußern.
Das Vermischen verschiedener Aspekte verschiedener Kulturen ist natürlich ein mächtiges Werkzeug im Kreativitätskoffer eines jeden Bastlers. Nehmen wir den römischen Imperialismus, den chinesischen Gottkaiserkult, sassanidische Kriegsführung, griechische Kunst, ägyptische Götter, aztekischen Sakralbau, subsaharische Klicklautsprachen und barocke Morbidität und mischen es zu einer neuen Kultur. Et voilà haben wir etwas ganz individuelles, kreatives, Nochniedagewesenes … das bei einer Betrachtung, die nicht an der Oberfläche haften bleibt, überhaupt nicht stimmig ist und nicht zusammenpasst.
Ich möchte damit lediglich auf die Gefahr hinweisen, dass man da einen Flickenteppich fabrizieren könnte, dessen einzelne Farben sich beißen, sodass das Gesamtprodukt Augenkrebs erzeugt. Denn beim Zusammenkleben gilt es eines zu beachten: Es gibt Gründe, warum eine Kultur bestimmte Aspekte so hervorgebracht hat, wie sie dies tat. Es gibt Gründe, warum die Griechen diese Ästhetik entwickelten, warum die Sassaniden auf jene Weise kämpften, warum Azteken ihre Tempel genau so gebaut haben und die Ägypter mehr Götter haben, als man zählen kann. Die Gründe dafür liegen in dem völlig einzigartigen indivduellen Zusammenspiel aller Faktoren, die zu dieser Kultur geführt haben. Da spielen Geographie, Geologie, Klima, Nachbarkulturen, Rohstoffe, historische Ereignisse, herausragende Persönlichkeiten etc. etc. eine Rolle. Reiße ich nun mir gefällige Elemente aus diesem ganz speziellen Kontext heraus und klebe sie an andere herausgerissene Elemente, ist die Gefahr groß, dass nichts zusammenpasst. Daher sollten wir als Bastler, die das tun, genau aufpassen, was wir zusammenkleben und wie wir dies tun. Es sollte uns bewusst sein, dass das Zusammenkleben die meiste Arbeit macht und erst dieses Aneinanderpassen der Inspirationsbausteine die wirkliche Individualität des Produktes ausmacht. Wenn man das gut macht, kann das Produkt überzeugen. Vernachlässigt man diese Arbeit, wirkt es wie ein wildes, planloses Sammelsurium.
Ich hebe dies hier so lang und breit hervor, weil mir dieser Aspekt in deinem Beitrag fehlt und er meiner Meinung nach dazu gehört.
Viele Grüße, Eld
Danke für die Ergänzung, da hast du natürlich recht!