Auf Tolkien gehen so viele Fantasy-Stereotype zurück, dass Der Hobbit und Der Herr der Ringe aus heutiger Sicht selbst in Klischees zu ertrinken drohen. Und überhaupt, ist der Weltenbau von Tolkien wirklich so gut? Ja. Aber das bringt das Genre heute nicht mehr weiter: Wir müssen uns auf die Schultern des Riesen Tolkien stellen und von dort eigene Wege auskundschaften.
Dieser Beitrag ist Teil der „Reden über Weltenbau“ Reihe, die wöchentlich mit Felix von NonPlayableCharacters im Ping-Pong-Prinzip auf beiden Websites läuft. Eine Liste aller Artikel findet sich am Ende dieses Beitrags.
Anlehnung an das europäische Mittelalter, die „EDO“-Völker (Elves, Dwarves, Orcs), der epische Kampf von Gut gegen Böse: Das sind die Zutaten klassischer Fantasy. Sie sind so allgegenwärtig, dass man ihrer schon überdrüssig ist. Und ja, Der Herr der Ringe nimmt nach wie vor eine herausragende Stellung im Genre ein, aber wird Tolkiens Weltenbau nicht vielleicht doch ein wenig überschätzt? Diese Frage wirft Felix bei NonPlayableCharacters etwas verklausuliert in seinem letzten Beitrag auf. Aus heutiger Sicht mag die Frage legitim erscheinen, schließlich hat sich die Fantastik scheinbar längst von Mittelerde emanzipiert. Felix schreibt:
„Tolkien hat viel für die klassische Fantasy gemacht und vermutlich hätte Fantasy ohne ihn nicht den Stellenwert, den es heute genießt.“
Auch vor Tolkien gab es schon Fantasy, aber Der Herr der Ringe hat mit seiner Veröffentlichung 1954 alles verändert. Bis dahin dominierten episodenhafte Heldenerlebnisse wie die Conan-Romane von Robert E. Howard, kurze Erzählungen in diversen Pulp-Heftchen und eher märchenhaft angelegte Welten wie Oz das Genre. Vor allem war Fantasy nicht Teil der Mainstream-Kultur.
Tolkien löste den ersten Fantasy-Boom aus
Erst in den Sechzigern wurde Der Herr der Ringe dank einer billigen Taschenbuchausgabe in den USA einer breiten Masse bekannt – die Bücher wurden erst in Hippie- und Studentenkreisen gelesen, dann vom ganzen Land und schließlich weltweit. Tolkien löste damit den ersten Fantasy-Boom überhaupt aus: Verlage legten längst abgeschriebene Autoren wie Howard neu auf und nahmen neue Schriftsteller unter Vertrag – Hauptsache, man konnte auf der Tolkien-Welle mitsurfen (die übrigens auch die Geburtsstunde des Pen-&-Paper-Rollenspiels und der Beginn der Dungeons & Dragons Erfolgsgeschichte war).
„Ist Mittelerde eine gute Welt?“
Weltenbau war kein neues Konzept, auch andere hatten schon Karten für ihre Welten gezeichnet, ein Götterpantheon ersonnen oder Sprachen konstruiert. Tolkien kannte die Arbeiten von seinem Freund C. S. Lewis (Die Chroniken von Narnia), Lord Dunsany (The Book of Wonder, The King of Elfland’s Daughter) oder E. R. Eddison (Der Wurm Oroubouros). Als Akademiker studierte er Werke wie Beowulf und die finnische Nationalsaga Kalevala. Doch sein Anspruch und der Umfang seiner Welt Arda hatten eine völlig neue Qualität. Tolkien begann mit der Arbeit an Arda schon 1917, der Weltenbau kam lange vor den Geschichten, durch die wir sie überhaupt kennen (Der Hobbit erschien 1937). Bis zu seinem Tod 1973 machte er unermüdlich weiter, er überarbeitete und ergänzte ständig.
Sein Weltenbauprozess begann mit der Erfindung von Sprachen, denn er war zuvorderst Sprachwissenschaftler an der Universität Oxford. Dazu schuf er die Kulturen, aus denen sie entstanden sein sollten. Er kartografierte seine Welt genau, berechnete Entfernungen und Wege. Dabei berücksichtigte er sogar Völkermigrationen und ihre Auswirkungen auf die Sprachen: Quenya und Sindarin, die beiden bekanntesten Elbensprachen, haben sich in Arda aus Dialekten des Ur-Elbisch entwickelt. Er adaptierte Sagengestalten und machte sie zu den Elfen und Zwergen, die wir heute eindeutig der Fantasy zuordnen – und er erfand die Orks. Ohne Tolkien gäbe es keine „EDO“-Fantasy.
Die Kulturen seiner Völker gestaltete er nach Vorbildern aus der Weltgeschichte wie Germanen, Skythen und Griechen. Das Ergebnis war so glaubhaft, dass wir inzwischen eindeutige Vorstellungen davon haben, wie eine Elfen- oder Zwergenkultur typischerweise aussieht. Er verwob die Geschichte seiner Völker zu einer komplexen Mythologie, die Zeiträume von tausenden Jahren abbildete. Was sein Sohn Christopher Tolkien posthum im Silmarillion veröffentlichte, ist nur ein winziger Auszug dieses Werks. Dieses Niveau ist nahezu unerreicht. Vergleichen mit Tolkien halten nur absolute Ausnahmetalente wie Frank Herbert (Dune) und George R. R. Martin (Das Lied von Eis und Feuer) stand.
„Ist eine Stadt wie Minas Tirith überhaupt logisch?“
Felix stellt einige solcher Detailfragen. Der Erkenntnisgewinn erscheint mir gering: Solche Unzulänglichkeiten sind für die Faszination von Arda unerheblich. Tolkien erkannte früh, dass er seine Geschichten in ein scheinbar funktionierendes Ganzes einzubetten hatte. In einem Brief schrieb er:
„[Der Herr der Ringe] wurde langsam und mit viel Sorgfalt bei den Details geschrieben und zeichnete sich am Ende als eine Art rahmenloses Gemälde ab: Ein Suchscheinwerfer sozusagen, der eine kurze Episode in der Geschichte eines kleinen Teils von Mittelerde beleuchtet, umringt vom Schimmer einer grenzenlosen Ausdehnung in Raum und Zeit.“
Er theorisierte den Weltenbauprozess und schrieb darüber unter anderem in seinem Aufsatz „On Fairy Stories“. Tolkien hat mit seiner eigenen Welt nicht nur eine selten erreichte Messlatte geschaffen, sondern mit seinen Überlegungen zur Rolle und Wirkung fiktiver Welten entscheidend dazu beigetragen, dass andere Autoren auf seinem Werk aufbauen können.
Nicht die Diskussion über Tolkiens Welt bringt uns vorwärts, sondern die Diskussion seines Erbes
Ist Tolkien damit über jede Kritik erhaben? Auf keinen Fall. Aber wenn wir nach Unzulänglichkeiten in seinem Weltenbau suchen, sollten wir uns nicht mit architektonischen Details oder möglichen Löchern im Plot seiner Geschichten aufhalten. Lasst uns stattdessen große Fragen stellen, die sich mit dem Erbe Tolkiens befassen, denn sein nachhaltiger Einfluss auf das Genre ist unbestritten.
Ist es noch zeitgemäß, ein ganzes Fantasy-Volk wie Elfen oder Zwerge als „Monokultur“ darzustellen? Wie wirkt sich so eine Vereinfachung darauf aus, wie wir anderen Kulturen in der realen Welt begegnen? Schaffen wir es endlich, vom europäischen Mittelalter-Stereotyp Abstand zu nehmen, der Verlage und Filmstudios im Würgegriff der scheinbaren Risikofreiheit hält?
Ich will mehr Fantasy mit asiatischen und afrikanischen Einflüssen, neuen Zutaten, die das Genre wirklich weiterbringen! Ich will Welten, in denen Veränderung und Fortschritt die Bewohner und ihre Geschichten prägen, kein romantisiertes Dauerzeitalter, in dem technische Innovationen, Entdeckungen, neue Philosophien und Gesellschaftskonzepte Mangelware sind!
Wenn wir Tolkiens Erbe ehren wollen, müssen wir uns davon endlich lösen.
Update (06.05.2016): Übersicht aller Artikel der „Reden über Weltenbau“ Reihe
Titelbild: J. R. R. Tolkien; Büste in Oxford (2012), (CC BY-SA 3.0) Julian Nitzsche/Wikimedia; Bearbeitung durch Weltenbau-Wissen.de