Fantasie Weltenbau

Die Fantasie, mein Komplize

Erst wenn Leser oder Spieler Lücken in einer Welt mit ihrer eigenen Fantasie auffüllen können, wird sie lebendig. Ein Plädoyer für Welten mit Charakter und weißen Flecken auf der Landkarte.

Dieser Beitrag ist Teil der „Reden über Weltenbau“ Reihe, die wöchentlich mit Felix von NonPlayableCharacters im Ping-Pong-Prinzip auf beiden Websites läuft. Eine Liste aller Artikel findet sich am Ende dieses Beitrags.

Der Mensch ist ein Entdecker, er fragt sich stets, was hinter dem Horizont liegt. Das git für den Horizont unserer Erde, aber auch für jede fiktive Welt. Den Reiz des Herrn der Ringe beschrieb Tolkien einmal so: „Ein Teil […] ist, glaube ich, das Erhaschen eines Blicks auf eine größere Geschichte im Hintergrund: Wie der Reiz einer noch nicht erkundeten Insel, die man in der Ferne erkennt, oder von den Türmen einer entfernten Stadt, die von der Sonne angestrahlt im Morgennebel aufleuchten. Dort hinzugehen würde bedeuten, diese Magie zu zerstören, es sei denn, es ergeben sich wieder neue Aussichten.“

Tolkiens literarischer Taschenspielertrick ist eine wichtige Erkenntnis: Die Fantasie von Lesern oder Spielern ist der mächtigste Verbündete im Weltenbau. Wer Teile einer Welt beschreibt und andere nur andeutet, macht die Vorstellungskraft zum Komplizen. Einmal angeregt, beginnt sie die Lücken auszufüllen, im Kopf des Lesers oder Spielers wächst die Welt weiter und wird lebendig. Ein unverzichtbarer Vorteil für Schriftsteller und Rollenspiel-Autoren – wenn sie nicht dem Drang nachgeben, alles enthüllen zu müssen.

Der Wert der Lücke

In seinem letzten Artikel in unserem kleinen Dialog hat Felix schon darauf hingewiesen, dass im Pen-&-Paper-Rollenspiel diese Lücken eine große Chance sind: Spielerrunden können sie mit ihren eigenen Abenteuern ausfüllen. Eine gute Rollenspielwelt muss das aushalten. „Die besten Welten sind auch ohne zwölfbändiges Einstiegsset unvergesslich“, schreibt etwa Spieldesign-Veteran Wolfgang Baur im „Kobold Guide to Worldbuilding“.

Was macht diese besten Welten so unvergesslich? Charakter! Wenn Leser oder Spieler ein Gefühl dafür bekommen, was eine Welt ausmacht, was das Besondere an ihr ist, dann können sie sich weiße Flecken auf der Landkarte selbst erschließen. Dann läuft der Film im Kopf auch ohne Regieanweisung für jede Szene. Ohne einen besonderen kreativen Dreh, eine einzigartige Idee oder eine neue Vermischung bewährter Zutaten fehlt aber die Faszination, die zum Treibstoff der Vorstellungskraft wird. Viele Welten in der Fantastik, egal ob Fantasy oder Science-Fiction, bleiben deshalb blass. Wer die Fantasie zum Komplizen machen will, gibt sich also besser Mühe beim Weltenbau – und beweist anschließend Mut zur Lücke.


Update (06.05.2016): Übersicht aller Artikel der „Reden über Weltenbau“ Reihe


Titelbild: „8/52 Fantasy“, (CC BY 2.0) Pier-Luc Bergeron/Flickr

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert