Ein Weltenbauprojekt kann schnell ausufern, die Gefahr, sich in den falschen Details zu verrennen, ist groß. Wie kann man möglichst systematisch arbeiten? In der Regel wird empfohlen, sich vom Kleinen ins Große oder umgekehrt vorzuarbeiten. Doch beide Vorgehensweisen haben große Nachteile, keine ist allein zielführend.
Jede fiktive Welt beginnt mit einer Idee. Oft ist diese Idee schon ein erstes Element der fiktiven Welt, wie etwa ein Charakter, ein Land, ein Zauberspruch, ein Raumschiffantrieb. Warum ist der Charakter so, wie er ist? Wie funktioniert dieser Zauber und wieso gibt es ihn? Was ermöglicht derAntrieb, welche fernen Welten gelangen in Reichweite? In anderen Fällen macht eine Idee eine Welt erforderlich, um ausgebaut werden zu können, zum Beispiel um einer Geschichte über Verrat und Rache eine Bühne oder einer Spielmechanik eine würdige Verpackung zu geben.
„Wer Apfelkuchen von Grund auf selber machen will, muss zuerst das Universum erfinden.“
Der Astrophysiker Carl Sagan (übrigens auch hier zu hören) hat einmal gesagt: „Wer Apfelkuchen von Grund auf selber machen will, muss zuerst das Universum erfinden.“ Apfelkuchen zu backen ist diese Idee, mit der das Projekt anfängt. Dann kommt der nötige Weltenbau: Für Apfelkuchen braucht man Äpfel und für Äpfel einen Apfelbaum. Der Apfelbaum braucht die richtigen Bedingungen, um zu gedeihen. Woher kommen die Nährstoffe im Boden und woher das Wasser? Die Erdzeitalter ziehen vor dem geistigen Auge vorbei, man landet bei der Entstehung des Lebens auf einem heißen Klumpen aus flüssigem Gestein, auf den es erstmals regnet. Davor braucht es freilich die Entstehung des Sonnensystems, Sternenstaub, die Geburt des Kosmos…
Endlose Kausalketten werfen ihre Schatten voraus und man droht von der Komplexität der Aufgabe erschlagen zu werden. Die gute Nachricht ist, dass niemand eine Welt erwartet, die es mit der Realität aufnehmen kann. Es geht darum, einen fiktiven Apfelkuchen zu backen. Trotzdem kann der Prozess wie eine Herkulesaufgabe wirken – oder wie Sisyphusarbeit, die nie endet. Wie lässt sich ein Weltenbauprojekt systematisch unter Kontrolle bringen?
Den Anfang finden
Weltenbau ist komplex, weil fiktive Welten ein Geflecht aus Orten, Wesen, Personen, Geschichten, abstrakten Konzepten und vielem mehr sein können. Alles hängt miteinander zusammen, alles beeinflusst sich. Einen imposanten Tempel gibt es etwa, weil Wesen mit einem Bewusstsein eine Religion entwickelt haben, die das Gebäude rechtfertigt. Vielleicht hat ein charismatischer Anführer die Religion vor langer Zeit gestiftet und ein Nachfolger will jetzt ihm und sich ein Denkmal setzen. Außerdem verfügen die Wesen über die nötige Technologie und die Ressourcen, um den Tempel zu konstruieren, und die nötige Zeit, weil es ihnen so gut geht, dass sie nicht den ganzen Tag mit der Deckung ihrer Grundbedürfnisse verbringen müssen. Vielleicht ist das so, weil sie in günstigem Klima leben und mehrere Ernten pro Jahr einfahren können. Die Existenz des Tempels ist die Konsequenz vieler Faktoren und wird selbst Konsequenzen haben. Weltenbau verlangt nach dieser inneren Logik.
Eine Welt hat keinen Anfang und ein Ende wie eine Geschichte.
Eine Welt hat keinen Anfang und ein Ende wie eine Geschichte. Man kann im Geflecht einer Welt einen beliebigen Punkt wählen und dann logischen Verbindungen weiter folgen, ohne je in einer Sackgasse zu landen: Man erreicht immer wieder neue Knotenpunkte. Allerdings ist die Wahl des Einstiegspunktes jedem selbst überlassen, ebenso wie die Entscheidung, in welche Richtung man weitergehen möchte. Hier setzt systematischer Weltenbau an.
Diesen Einstieg sollten die Idee bilden, mit der das Projekt begann, und der Zweck, wofür die Welt gebraucht wird. Wer einen mehrbändigen Roman verfasst, wird mehr Welt brauchen, als der Leiter einer heimischen Rollenspielrunde, der ein frisches, aber lokal begrenztes Setting sucht. Wenn ein Novize des oben genannten Tempels die Welt bereist, muss sie größer und in vielen Belangen detailreicher beschrieben sein, als wenn eine Gruppe Helden in einem Detektivspiel den Mord an einem Priester auf dem nahen Marktplatz aufklären soll.
Allerdings behält der Romanautor immer die volle Kontrolle über Perspektive und Protagonist, die Welt wird von ihm nur so weit enthüllt, wie er das auch möchte. Die Spieler der Helden tun womöglich unvorhergesehenes und sollten abseits der vorgesehenen Pfade trotzdem mehr als dünne Kulisse finden, um die Illusion aufrechtzuerhalten. Wo der Weltenbau beginnt, hängt von diesen Anforderungen ab.
Vom Kleinen zum Großen
Wird ein einziger oder eine Reihe von lokal begrenzten Schauplätzen benötigt, kann man sich vom Kleinen zum Großen vorarbeiten. „Klein“ meint hier begrenzt im geografischen Sinne: Ein einzelner Ort oder eine einzelne Region wird so detailliert ausgearbeitet, dass alle benötigten Informationen von Klima und Landschaft bis zu Sozialstrukturen und wichtigen Persönlichkeiten abgedeckt werden. Je weiter ein Teil der Welt von diesem begrenzten Ausschnitt entfernt ist, desto weniger Details werden benötigt – bis die Welt an ihrem Rand buchstäblich zerfasert. Der Schöpfer der Welt kann sie bei Bedarf ausbauen und notfalls weitere Bestandteile der Welt nach und nach hinzufügen.
Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass die erste Region rückwirkend mehrfach angepasst werden muss.
Damit ist dieser Ansatz vor allem kurzfristig effizient. Für einzelne Bereiche einer Welt kommt man so schnell zu „vorzeigbaren“ Ergebnissen. Problematisch ist diese Vorgehensweise aber, sobald mehr und mehr Lokalitäten hinzukommen und mehr Knotenpunkte im Geflecht der Welt berührt werden, die sich nicht über Orte eingrenzen lassen, etwa die Funktion von Magie oder wissenschaftliche und religiöse Konzepte. Wenn regional schon viele Details entwickelt wurden, müssen alle folgenden Informationen zu anderen Bereichen der Welt auf diese etablierten Gegebenheiten Rücksicht nehmen, um Brüche in der inneren Logik der Welt zu vermeiden. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass die erste Region rückwirkend mehrfach angepasst werden muss.
Vermeiden lässt sich dies nur, indem Bereiche, die die lokale Begrenztheit weit übersteigen, möglichst vage gelassen werden. Das heißt aber nicht, dass man sich ihnen früher oder später nicht doch widmen muss. Vom Kleinen zum Großen zu arbeiten birgt die Risiken vieler Revisionen und bei größeren, weltumspannenden Fragen den Rückfall auf bekannte Klischees, um große Löcher schnell auszufüllen.
Vom Allgemeinen zum Speziellen
Der umgekehrte Weg verspricht von vornherein mehr Konsistenz, erfordert aber mehr Disziplin und ist weniger ökonomisch, denn er braucht auch viel mehr Zeit. Wer zuerst klärt, wie Magie funktioniert oder welche Kontinente es auf einem Planeten gibt, steckt die wichtigsten Knotenpunkte im Geflecht einer Welt schon ab. Dazu gehört auch das Festlegen von anderen physikalischen Gesetzen, geografischen oder astronomischen Gegebenheiten oder vorherrschenden Kulturen. In Reinform heißt dies, sich erst den wichtigsten Rahmenbedingungen und dann immer kleinteiligeren Einheiten der Welt zu widmen
Tatsächlich lässt sich dieser ideale Prozess in der Realität kaum umsetzen
Im Idealfall führt dies zu einer komplexen, in sich absolut logischen und stimmigen Welt aus einem Guss. Tatsächlich lässt sich dieser ideale Prozess in der Realität kaum umsetzen, denn den meisten Weltenschöpfern wird es schlicht an Ideen und Zeit fehlen, alle Ebenen gleichmäßig nach und nach mit Inhalten zu füllen. Auch ist eine möglichst große und komplexe Welt vielleicht nicht das Ziel des vorher ermittelten Bedarfs.
Der Mittelweg
Wer vor viel Arbeit steht, muss vor allem zwei Dinge tun: anfangen und weitermachen. Es gibt kein perfektes Rezept für Weltenbau und die beiden beschriebenen Ansätze können nur Orientierung bieten. Wer nicht aufgibt, kommt seinem Ziel immer ein wenig näher. Tatsächlich kommt das Geflecht einer Welt dem kreativen Prozess eigentlich entgegen: Inspiration basiert häufig auf Assoziation. Es spricht nichts dagegen, sich von einem Knotenpunkt zu anderen zu hangeln oder von einem Weltenbau-Ansatz zum anderen zu wechseln. So werden vielleicht ein Tempel und seine nähere Umgebung beschrieben, nur um später zur Religion des Tempels, einem Götterpantheon und vielleicht anderen Religionen und ihren geografischen Zentren zu springen.
Entscheidend bleibt, das Ziel des Weltenbaus nicht aus den Augen zu verlieren und sich im Zweifel immer wieder neu darauf auszurichten. Temporär einem der beiden Ansätze zu folgen kann sehr hilfreich dabei sein, auf Zwischenziele hinzuarbeiten und sie auch zu erreichen. Am Ende mag man dann hoffentlich einsehen, dass für den Apfelkuchen nicht wirklich ein ganzes Universum nötig ist, sondern vielleicht nur der nächste Obstgarten.
Das könnte auch helfen:
Der Weltenbau Fragenkatalog
Mehr lesen:
- Chris Pramas: Worldbuilding Inside Out and Outside In, in: The Kobold Guide to Worldbuilding; Kobold Press. Taschenbuch, ca. 17 Euro.
Titelbild: „Seedlings“, (CC BY 2.0) meteor153/Flickr
„Wer vor viel Arbeit steht, muss vor allem zwei Dinge tun: anfangen und weitermachen.“
Sehr, sehr wahr, und gerade aufs Weltenbasteln trifft das ganz genau zu. 😉
*packt sich an der eigenen Nase und trollt sich*
Achso, zum Thema noch: Ich ziehe grundsätzlich den „idealistischen“, Konsistenz versprechenden top-down-Ansatz vor – und kann bestätigen, dass er in der Praxis kaum konsequent durchzuhalten ist. Recht bald schon wird es einem schlicht zu unkonkret und „zu weit herausgezoomt“, wenn man streng erst alle wichtigen Randbedingungen der Welt (Astronomie, Geologie, Klimazonen, ggf. Möglichkeiten und Grenzen von Magie und/oder Sci-Fi-Tech usw.) festklopft, bevor man sich mit Details befasst. Dann möchte man einen anschaulichen Einzelaspekt (eine Stadt, ein Charakter, ein Raumschiff…) auch dann schon eingehend beschreiben, wenn das „big picture“ drumherum noch längst nicht feststeht. 🙂
Ich glaube, man kann zwischen beiden Ansätzen gut alternieren. Je nachdem, was das nächste Ziel sein soll. Vielleicht hat man mit einem Dorf inklusive Tempel angefangen und das ausgebaut. Dann könnte man als nächstes Kosmos und Götterpantheon in Angriff nehmen. Umgekehrt hat man sich vielleicht schon mit diesen Fragen auseinandergesetzt, hat anschließend aber eine gute Idee für eine Theokratie, die einem bestimmten Glauben anhängt. Als einzige Faustregel darf wohl gelten: Richtig ist, was weiterbringt.
„Richtig ist, was weiterbringt.“
Ja – was einen nämlich definitiv NICHT weiterbringt, ist, über Jahre an der Ausarbeitung der groben Welthistorie hängen zu bleiben und dabei erstens das Gefühl zu haben, man könne doch jetzt noch nicht mit X oder Y weitermachen, solange dieser große Knoten in der Historie noch nicht gelöst ist, und zweitens darüber generell die Bastelmotivation zu verlieren. Ich weiß wovon ich spreche. xD