Warum fühlen sich manche Welten so „echt“ an, warum wollen wir immer wieder darin eintauchen? Und warum können manchmal schon wenige Details den Genuss einer Buch- oder Filmwelt für uns kaputtmachen? Erfolgreicher Weltenbau folgt drei universellen Grundsätzen. Wie gut eine Welt diese Grundsätze erfüllt, entscheidet über ihr Wohl oder Wehe beim Rezipienten.
Nicht alle Welten sind für die Öffentlichkeit bestimmt – mancher Weltenbauer macht das ganz für sich. Doch macht ein Schöpfer seine Welt einem Publikum zugänglich, dann will er, dass dieses Publikum seine Welt ernst nimmt und sich auf sie einlässt. Diesen Vorgang hat der britische Dichter und Philosoph Samuel Taylor Coleridge die „willentliche Aussetzung der Ungläubigkeit“ („willing suspension of disbelief“) getauft. Hinter diesem sperrigen Begriff steckt das Konzept, dass das Publikum die Rahmenbedingungen, Dinge und Ereignisse eines Werks der Fiktion als wahr akzeptiert – zumindest vorübergehend, zum Beispiel beim Lesen eines Romans, bis zum Ende eines Films oder während eines Rollenspiels. Anstatt alles als unwahr und nicht der Realität entsprechend abzutun, nimmt das Publikum Anteil daran, auch emotional. Die Erleichterung beim Eintreffen der Reiter von Rohan vor Minas Tirith spüren wir im „Herr der Ringe“, weil wir akzeptiert haben, dass Mittelerde existiert und dass das Schicksal der freien Völker auf dem Spiel steht. Gleichzeitig wissen wir eigentlich, dass das alles Fiktion ist. Die Aussetzung der Ungläubigkeit ist aber in der Regel ein sinnvoller Deal für das Publikum: Wir akzeptieren die Illusion, damit wir gut unterhalten werden. Ganz unstrittig ist dieser Ansatz nicht: J. R. R. Tolkien ging er zum Beispiel nie weit genug, für ihn sollten gelungene Welten diese willentliche Entscheidung durch unausweichliche Sogwirkung gleich überflüssig machen.
Der absolute Maßstab bleibt die Welt unserer Realität
In beiden Fällen ist das kein leichtes Unterfangen, bleibt doch der absolute Maßstab die Welt unserer Realität. Je weiter sich eine Welt von dieser Vorlage entfernt, desto schwieriger wird es, das Publikum dazu zu bringen, sie trotzdem als vorübergehend real zu akzeptieren. Doch Erfolg ist kein Zufall. Der Medienwissenschaftler Mark J. P. Wolf hat verschiedene theoretische Ansätze zu dieser Problematik analysiert und kommt zu dem Schluss, dass es drei grundsätzliche Kriterien für erfolgreichen Weltenbau gibt: Erfindungsreichtum, Vollständigkeit und Konsistenz. Sind diese Kriterien ausreichend erfüllt, weckt das beim Rezipienten (dem Leser, Zuschauer, Spieler) Interesse und führt zum Abschluss des gewünschten Deals: Die Welt wird vorübergehend als alternative Realität akzeptiert.
1. Erfindungsreichtum
Um die grundsätzliche Bedeutung von Erfindungsreichtum im Weltenbau zu verstehen, muss man sich bewusst sein, dass keine fiktive Welt bei null anfängt. Im Gegenteil: Am Anfang steht immer die Annahme, dass alle Rahmenbedingungen mit unserer Welt übereinstimmen. Das betrifft Naturgesetze, Geographie, Biologie, Sprache, Namen, Kultur, Gesellschaft. Solange nicht explizit Abweichungen davon beschrieben oder dargestellt werden, geht der Rezipient davon aus, dass alles unserer Erde (oder vielmehr „seiner“ Erde) entspricht. Natürlich ist das auch nützlich für den Weltenbauer: Wer eine Parallelgesellschaft von Zauberern in Großbritannien entwirft, muss nicht erst erklären, was die Stadt London ausmacht. Für die Welt von „Harry Potter“ hat es Joanne K. Rowling gereicht, die Besonderheiten der magischen Welt zu beschreiben. Britische Kultur, Geschichte und Geographie ließ sie weitgehend unangetastet und konnte sie sogar voraussetzen.
Selbst wer sich von der Erde entfernt, bleibt innerhalb ihres Referenzrahmens. So werden neue Länder, Kontinente, Planeten oder Galaxien gestaltet und anschließend mit bekannten oder fremdartigen Bewohnern bevölkert, denen kulturelle Eigenheiten verliehen werden. Aber auch diese Neuschöpfungen orientieren sich in der Regel an bekannten Kategorien. Beispielsweise wird Aragorn zum König von Gondor gekrönt, doch dafür musste Tolkien nicht vorher die Funktionsweise eines Königreichs einführen. „Star Trek“ nimmt uns mit auf fremde Welten, doch die Crews der Sternenflotte können dort umherlaufen, ohne das Prinzip der Schwerkraft ausführlich erläutern zu müssen. Neben unserer eigenen Realität gibt es in vielen Genres gibt noch einen zweiten Referenzrahmen: Die Erfindungen anderer Weltenschöpfer, die sich als allgemeine Konventionen etabliert haben und bei vielen Rezipienten vorausgesetzt werden können. Drachen, Orks, Raumschiffe, Kraftfelder, Wurmlöcher, Elfen, Gestaltwandler und denkende Roboter benötigen kaum noch Erklärungen oder eine Rechtfertigung beim Einsatz in bestimmten Welten. Hier ist das Publikum schon lange mit an Bord.
Was für Rezipienten zugänglich, interessant und plausibel ist, hängt von deren Vorwissen ab.
Faszinierend macht eine Welt aber natürlich nicht das Beibehalten von Bekanntem, sondern die Einführung neuer Elemente. Für Weltenbauer ist das ein Balanceakt: Was für Rezipienten zugänglich, interessant und plausibel ist, hängt von deren Vorwissen ab. Entfernt sich eine Welt zu weit von den Prämissen unserer Realität oder steht in Widerspruch zum Vorwissen des Publikums, gelingt die Illusion nicht. Dementsprechend selten experimentieren Weltenschöpfer zum Beispiel mit den Gesetzen von Raum und Zeit, wie wir sie kennen. Edwin Abbots Roman „Flatland“ etwa spielt in einer Welt, die aus nur zwei Dimensionen besteht. Während dieses Szenario für viele wohl nur problematisch ist, weil es mit unserer Realität wenig gemein hat, sind andere Prämissen schlicht nicht mehr vermittelbar: Ein neues Land in Europa oder Nordamerika lässt sich nicht mehr ohne Weiteres erfinden, denn ein westlich geprägtes Publikum ist mit diesen Erdteilen viel zu vertraut und würde die Idee wohl ablehnen – es sei denn, man liefert eine gute Erklärung, warum das Land bis heute unentdeckt blieb, etwa weil es durch einen Zauber geschützt ist oder wir uns in der Vergangenheit oder der Zukunft befinden. Doch auch etablierte Genrekonventionen können eine Gefahr für die gewünschte Aussetzung der Ungläubigkeit sein: Wer hier keine neuen Aspekte hinzufügt, bedient lediglich Klischees und langweilt sein Publikum, anstatt zu unterhalten. Die wesentlichen Merkmale von Mittelerde zu kopieren und dann auf eine andere Geographie zu übertragen, dürfte viele Fantasy-Fans inzwischen langweilen. Erfindungsreichtum ist das zentrale Kriterium für die Qualität einer fiktiven Welt. Für eine gelungene Illusion sollte man sich besser ordentlich ins Zeug legen.
2. Vollständigkeit
Keine fiktive Welt kann jemals in einer Art und Weise vollständig sein, die der Erde und unserer Realität gleicht. Gemeint ist vielmehr der Grad an Detailtiefe, der für die gezeigten Teile einer Welt erreicht wird. In einem Buch oder Film können das zum Beispiel die Handlungsorte und Hintergründe der vorkommenden Charaktere sein, in einem Computerspiel die zugängliche Spielwelt. Für den Rezipienten geht es um eine gelungene Illusion, also geht es hier nur um die Illusion von Vollständigkeit: Je mehr „unnötige“ Details vorhanden sind, die nicht für das Vorantreiben einer Geschichte notwendig sind, desto glaubwürdiger wird Welt als ein funktionierendes Ganzes. So entsteht das Gefühl, dass es noch mehr zu entdecken gäbe, wenn man sich abseits des Pfades der erzählten Geschichte herumtreiben würde. Erst wenn Rezipienten das Gefühl haben, dass sich die Welt weit über die Grenzen eines Plots oder Mediums hinaus erstreckt, entwickelt sie als Schauplatz selbst echte Faszination. Das impliziert zunächst einmal viel Arbeit: Gesellschaften müssen eine Organisationsform haben, Banalitäten wie Nahrung und Kleidung müssen durch ein Wirtschaftssystem gewährleistet sein, Fragen zu Kultur, Infrastruktur und ökologischen Systemen sowie nicht zuletzt zur Geschichte all dieser Kategorien müssen beantwortet werden.
Wenn ausreichend Informationen vorhanden sind, um das Publikum plausibel über die Antworten spekulieren zu lassen, ist das in der Regel ausreichend.
Am Ende braucht aber nicht jede Frage eine eindeutige Antwort: Wenn genug Informationen vorhanden sind, um das Publikum plausibel über die Antworten spekulieren zu lassen, ist das in der Regel ausreichend. Hier können sich Weltenbauer wieder zunutze machen, dass sie sich in den Referenzrahmen der Realität und eines gewählten Genres bewegen: Das Bier in der Taverne einer Fantasy-Welt wird beispielsweise vermutlich genauso gebraut wie auf der Erde, dafür muss kein neuer Brauprozess entworfen werden. Solange Rezipienten nicht das Gefühl haben, dass eine Frage gar nicht beantwortet werden kann, kann eine Welt als ausreichend vollständig gelten. In vielen Fan-Communitys ist das Zusammentragen von Hinweisen und Informationen für die Klärung von offenen Details sogar eine beliebte Beschäftigung. Tolkien war sich der Notwendigkeit von ausreichend Hintergrund und Geschichte einer Welt sehr bewusst. In zwei Briefen geht er auf ihre Rolle im „Herr der Ringe“ ein und bringt ihre Wirkung treffend auf den Punkt: „Es [der „Herr der Ringe“] wurde langsam und mit viel Sorgfalt bei den Details geschrieben und zeichnete sich am Ende als eine Art rahmenloses Gemälde ab: Ein Suchscheinwerfer sozusagen, der eine kurze Episode in der Geschichte eines kleinen Teils von Mittelerde beleuchtet, umringt vom Schimmer einer grenzenlosen Ausdehnung in Raum und Zeit.“ „Ein Teil des Reizes des H. R. [„Herr der Ringe“] ist, glaube ich, das Erhaschen eines Blicks auf eine weitreichendere Geschichte im Hintergrund: Wie der Reiz einer noch nicht erkundeten Insel, die man in der Ferne erkennt, oder von den Türmen einer entfernten Stadt, die von der Sonne angestrahlt im Morgennebel aufleuchten. Dort hinzugehen würde bedeuten, diese Magie zu zerstören, es sei denn, es ergeben sich wieder neue Aussichten.“
3. Konsistenz
Ob eine Welt in den Augen des Publikums am Ende „funktioniert“ hängt von der Konsistenz ihres Gesamtgefüges ab. Es können immer neue Elemente erfunden, immer neue Details hinzugefügt werden. Doch wenn das zu Widersprüchen und logischen Fehlern führt, läuft die Seifenblase der perfekten Illusion Gefahr zu platzen. Fehlt ausreichende Konsistenz, kann die Welt schlampig oder willkürlich wirken. Soll das Publikum sie eigentlich ernst nehmen, wird der Plan dann nicht mehr aufgehen. Je größer eine Welt wird, desto schwieriger ist es natürlich, sie frei von Widersprüchen zu halten. Das wissen auch die ganz Großen im Weltenbau: Tolkien musste nach Fertigstellung des „Herr der Ringe“ Änderungen am „Hobbit“ vornehmen, weil dem Einen Ring im „Hobbit“ Eigenschaften fehlten, die im „Herr der Ringe“ beschrieben worden waren. Für „Star Wars“ wurde erst in den späten Neunzigern eine Datenbank mit allen Charakteren, Orten, Waffen, Fahrzeugen, Ereignissen und Beziehungen angelegt. Zwei Jahrzehnte nach der Veröffentlichung der ersten Filme sorgten die dabei offensichtlich werdenden Widersprüche für reichlich Kopfschmerzen und viel Erklärungsarbeit.
Es ist nicht zwingend erforderlich, dass eine Welt zu einhundert Prozent widerspruchsfrei ist
Allerdings ist es auch nicht zwingend erforderlich, dass eine Welt zu einhundert Prozent widerspruchsfrei ist. Ob ein Rezipient auf Inkonsistenz aufmerksam wird, liegt vor allem an seiner Informationslage. Wenn er für die Widersprüche einer Welt verschiedene Quellen überblicken muss, ist die Wahrscheinlichkeit geringer, dass er sie entdeckt. Wer zum Beispiel nur den „Hobbit“ oder nur den „Herr der Ringe“ gelesen hatte, wäre wohl auf die Problematik mit dem Einen Ring nicht aufmerksam geworden. Auch sind nicht alle Widersprüche gleich prominent. Logikfehler, die während der Handlung eines Werks auftreten, werden schneller auffallen, als Widersprüche in der Konstruktion des feudalen Systems eines Staats oder bei der Nahrungsmittelversorgung eines Wüstenplaneten, die nur Nebenschauplätze sind. Je zentraler ein Element, desto widerspruchsfreier muss es in die Welt eingebettet sein.
Am Ende zählt Originalität
Die Referenzrahmen für Rezipienten sind heute so groß und fiktive Welten beliebt wie nie zuvor. Während Frank Herbert für „Dune“ beispielsweise noch jahrelang nach einem Verlag suchen musste, kann man heute mit allen möglichen Einfällen davonkommen. Das muss man allerdings auch: Viele Ideen sind inzwischen so abgegriffen, dass sie bestenfalls die Erwartungen eines Publikums noch erfüllen, aber nicht mehr übertreffen können. Egal wie viele Details eine Welt hat und wie gut sie in ihrer inneren Logik funktioniert, am Ende zählt Originalität.
Mehr lesen:
- Mark J. P. Wolf: Building imaginary worlds. The theory and history of subcreation; Routledge Chapman & Hall. Taschenbuch, ca. 30 Euro.
- Wolfgang Baur: How real is your world?, in: The Kobold Guide to Worldbuilding; Kobold Press. Taschenbuch, ca. 17 Euro.
Titelbild: „The World“, (CC BY 2.0) pbemjestes/Flickr