Rezension Dictionary of Imaginary Places

Rezension: The Dictionary of Imaginary Places

Auf mehr als 700 Seiten katalogisiert das „Dictionary of Imaginary Places“ fiktive Orte von Aiaia bis Zuy und deckt damit fast 3000 Jahre menschliche Vorstellungskraft und Literaturgeschichte ab. Stil, Tiefgang und Umfang machen das Werk absolut einzigartig.

Rezension The Dictionary of Imaginary Places
(c) Houghton Mifflin Harcourt

Eigentlich müsste der Schinken „The Dictionary of Imaginary Places on Planet Earth“ heißen, denn diese Einschränkung haben die beiden Autoren Alberto Manguel und Gianni Guadalupi für ihr Projekt gemacht. Ihr Ziel: eine Art Reiseführer zu Orten der Fantasie. Auch wenn es keine der aufgelisteten Inseln, Königreiche, Städte oder Kontinente wirklich auf der Erde gibt, so haben ihre Autoren sie doch zumindest dort angesiedelt. Oz ist dabei, John Carters Mars nicht. Ausgeschlossen wurden neben fernen Planeten und parallelen Dimensionen auch alle Zukunftsszenarien – Metropolis muss ebenfalls draußen bleiben. An Material mangelt es deswegen aber nicht, am Ende haben ungefähr 2000 Einträge aus verschiedensten Werken ihren Weg ins Dictionary gefunden. Bereits 1981 erschien die erste Fassung, die aktuell erhältliche Version wurde 1999 überarbeitet und ergänzt.

Manguel und Guadalupi besprechen jeden Ort, als würde er wirklich exisitieren.

Faszinierend macht diese Sammlung aber erst der von Manguel und Guadalupi gewählte Ansatz in der Darstellung: Sie besprechen jeden Ort, als würde er wirklich existieren und beschreiben ihn so sachlich wie möglich. Ganz so „wie man die Berichte eines Forschers oder Chronisten behandeln würde“, schreiben sie im Vorwort. Alphabetisch sortiert stehen die Einträge damit ganz für sich und werden ohne den Kontext ihres Originaltexts präsentiert. Nur Autor, Name des Werks und das Erscheinungsjahr weisen jeweils am Ende den Weg zum dazugehörigen Werk. Über Geschichte, Thema und Art des Texts erfährt der Leser nichts.

Vertrautes neu erleben und Unbekanntes entdecken

Mit diesem Kunstgriff lassen sich vertraute Orte nicht nur ganz neu entdecken, sondern ganz nebenbei stößt man auf bisher unbekannte Welten. So schweift der Blick etwa von Minas Tirith zum Eintrag von Milosis (die prächtige, versteckte Hauptstadt von Zuvendis; aus Henry Rider Haggards „Allan Quartermain“, 1887), von Hogwarts zu Hooloomooloo (eine Insel, die als Ghetto für Krüppel der umliegenden Inseln dient; aus Herman Melvilles „Mardi und eine Reise dorthin, 1849) oder von Narnia zu Nacumera (eine Insel bevölkert von Menschen mit Hundeköpfen; aus Sir John Mandevilles „Voyage de Sir John Mandevile“, 1357). Das Dictionary lädt sofort zum Schmökern ein.

Es wird deutlich: Fantastische Literatur unterlag schon immer verschiedenen Moden.

Einige der Einträge reichen fast 3000 Jahre in die Literaturgeschichte zurück, so finden sich beispielsweise einige Orte aus Homers „Odyssee“ und natürlich Platos „Atlantis“. Über Aristophanes „Wolkenkuckucksheim“, die fliegende Stadt der Vögel, stolpern einige aber sicher zum ersten Mal. Je mehr Aufmerksamkeit man den Entstehungsjahren widmet, desto stärker wird man zudem feststellen, dass fantastische Literatur schon immer verschiedenen Moden unterlag und unterschiedlichen Zwecken diente. So häuften sich im 18. und 19. Jahrhundert etwa exotische Inseln mit Zivilisationen, die bizarre Varianten der damaligen europäischen Gesellschaften oder der Antike darstellten.

Den Autoren Manguel und Guadalupi gelingt es dabei stets, das besondere an einem Ort herauszuarbeiten und stilsicher auf den Punkt zu bringen. Sie halten sich dabei an das Muster der ersten erhältlichen Reiseführer (Baedeker). Dass das so gut gelingt, verwundert allerdings kaum, denn beide sind selbst renommierte Schriftsteller. In vielen Einträgen blitzt cleverer Humor auf, ohne den eigenen Anspruch an Sachlichkeit zu verlieren.

Perfektioniert wird dieser Ansatz durch die Illustrationen von Graham Greenfield, die wunderbar den Stil von Enzyklopädien der Jahrhundertwende einfangen und beispielsweise an Meyers Konversationslexikon erinnern. Übersichtliches Kartenmaterial von James Cook rundet das Bild des Dictionary ab und ein Index erlaubt den schnellen Zugriff auf gesuchte Informationen.

Einem Weltenbauer, der Inspiration sucht, sollte da Dictionary of Imaginary Places auf keinen Fall fehlen. Einziger Wehrmutstropfen: Des Englischen muss man zwingend für dieses Meisterwerk mächtig sein. Die deutsche Übersetzung „Von Atlantis bis Utopia“, ebenfalls erstmals in den Achtzigern erschienen, ist nur noch gebraucht zu bekommen.


Manguel, Alberto; Guadalupi, Gianni: The Dictionary of Imaginary Places: The Newly Updated and Expanded Classic, Harcourt. Taschenbuch, Englisch, ca. 20 Euro.

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